Integration und Migration

Asylpolitik - Best Practice in Rheinland-Pfalz

<p><strong>Grüne Integrationsministerin Irene Alt besucht München.</strong> Seit 2011 ist Irene Alt in Rheinland-Pfalz erste Grüne Integrationsministerin. Seitdem hat sie auf Landesebene sehr viel bewegt. <a href="https://www.facebook.com/media/set/?set=a.719513891490228.1073741900.330148333760121&amp;type=1">Bei ihrem Besuch in München</a> berichtete sie uns von einigen sehr erfolgreichen Maßnahmen, die sie in ihrer Amtszeit realisieren konnte.</p>

12. Dezember 2014

Zum Beispiel der rheinland-pfälzische Abschiebehaft-Vermeidungserlass. Der Erlass kann die bundespolitisch gewollte Abschiebehaft zwar nicht komplett verhindern, kann die Fälle aber zahlenmäßig stark einschränken und die Haft für Betroffene erträglich machen.Außerdem berichtete Alt von den WIR-Sprachkursen für AsylbewerberInnen und dem Grünen Landesaufnahmegesetz, das dafür sorgt, dass die Flüchtlinge spätestens nach drei Monaten in dezentrale Unterkünfte umziehen können. Die Gastgeberin und asylpolitische Sprecherin der Grünen in Bayern, Christine Kamm, sagte: „An dem erfreulichen rheinland-pfälzischen Vorbild wird klar: Wenn der politische Wille vorhanden ist, lässt sich auf Landesebene viel für Flüchtlinge erreichen.“

Lebenschancen eröffnen: Schlau-Schule München praktiziert bestmögliche Beschulung von Flüchtlingen

„Die Bambi-Preisträger für Integration und eine fortschrittliche Integrationsministerin zusammenbringen – das erzeugt produktiven Austausch“, freut sich Christine Kamm die  Irene Alt eingeladen hatte , die Schlau-Schule in München zu besuchen. Björn Schalles, Geschäftsführer des Trägervereins und Rudi Hillreiner und Melanie Weber vom Rektorat begrüßten die Gäste der Grünen, darunter auch die Münchner Abgeordnete Claudia Stamm.

Die Schlau-Schule hat sich zum Ziel gesetzt, unbegleitete minderjährige und junge Flüchtlinge darin zu unterstützen, ihr Menschenrecht auf Bildung und Schule wahrzunehmen und an der Gesellschaft teilzuhaben. Im Moment besuchen etwa 300 Schülerinnen und Schüler die Schlau-Schule und die Partnerschule ISUS, die junge Flüchtlinge sofort nach ihrer Ankunft ein erstes Schulangebot eröffnet. Von Jahr zu Jahr wird die Schule größer. Viel Unterstützung erhält die Schlau-Schule von der Stadt München, ein Großteil des Etats muss jedoch Jahr für Jahr wieder durch Spenden akquiriert werden.

Obwohl die Anfangszeit nicht einfach war: Mittlerweile ist die Schule mit Preisen überhäuft worden. 2014 erhielt Schlau den deutschen Schulpreis, Gründer Michael Stenger erhielt dieses Jahr den Integrations-Bambi. Die Strahlkraft der Schule sorgt dafür, dass das Know-How bundesweit gefragt ist „Wir beraten Kultusministerien in anderen Bundesländern und die von uns durchgeführten Fortbildungen, vor allem für Pädagogen, sind ausgebucht“, so Melanie Weber.

Trotzdem sieht die Leitung der Schlau-Schule noch große Probleme, die ihre Arbeit behindern. „Der unsichere Status von einigen unserer Schüler behindert sie beim Lernen. Wenn sie nicht wissen, ob sie nächsten Monat vielleicht abgeschoben werden können oder wenn sie nicht damit rechnen können, später eine Arbeitserlaubnis zu bekommen, müssen wir sie trotzdem motivieren“, so Björn Schalles. Er fordert einen sicheren Aufenthaltsstatus für Flüchtlinge in Schule und Ausbildung. „Außerdem drängt das Ausländerrecht die Flüchtlinge häufig dazu, zu früh zu arbeiten, obwohl sie schulisch weitere Perspektiven hätten.“

Generell waren sich die Grünen und die Vertreterinnen und Vertreter der Schlau-Schule einig, dass Flüchtlinge in Bayern besser beschult werden müssen. Besonders die Gruppe der 16-21jährigen ist maßlos unterversorgt. Von 10.000 Flüchtlingen in diesem Alter, die in Bayern leben, haben nur etwa 3.000 einen Schulplatz. An den städtischen und staatlichen Berufsschulen, die diese Menschen beschulen müssen, fehlen die Kapazitäten. Irene Alt zeigte sich verwundert, dass es die bayerische Regierung nicht schaffe, die Schulpflicht umzusetzen. Christine Kamm fordert deshalb im Landtag immer wieder: „Die Plätze, die für schulpflichtige junge Menschen zur Verfügung stehen müssten, müssen auch real geschaffen werden. Leider ist die Staatsregierung nicht dazu bereit, die bestehende Schulpflicht umzusetzen.“
Auch die Kultusministerkonferenz verschleppt das Thema Beschulung von Flüchtlingen. Weil grundsätzlich keine Einigkeit erzielt werden könne, werde das Thema immer wieder vertagt. Irene Alt versprach, sich hierüber mit ihrem Kollegen im Kultusministerium auszutauschen und bedankte sich für die vielfältigen Ideen und Eindrücke und die hervorragende Arbeit der Schlau-Schule.

Refugio – Seit 20 Jahren vorbildliche Trauma-Hilfe für Flüchtlinge

Das Zentrum für traumatisierte Flüchtlinge und Folteropfer wurde vor 20 Jahren auf private Initiative hin gegründet. Heute hat es neben dem Haupthaus in München noch Standorte in Landshut, Augsburg und Rosenheim. Die Schwerpunkte der Arbeit sind Gruppen- und Einzeltherapien, Kunstwerkstätten mit Kindern, sowie Elterntraining.
Insgesamt 28 fest angestellte Sozialpädagogen, Psychologen und Kunsttherapeuten, außerdem 40 Dolmetscher und 120 Ehrenamtliche arbeiten hier. „Etwa 30% der erwachsenen Flüchtlinge sind traumatisiert, bei Kindern und Jugendlichen sind es 50 bis 60 %“, sagte Jürgen Soyer, der Geschäftsführer von Refugio.

Der Handlungsbedarf ist also sehr groß. Refugio hilft vor allem Flüchtlingen, deren Aufenthaltsstatus noch ungeklärt ist. „Anerkannte Asylbewerber erhalten über die Regelversorgung Hilfe, nicht jedoch die Menschen, die geduldet sind und deren Asylstatus noch ungeklärt ist“, berichtete Soyer. Zu den traumatisierenden Erlebnissen in ihrem Heimatland oder während der Flucht kommt bei diesen Menschen noch die Sorge über ihre aktuellen, ungeklärten Lebensumstände hinzu. Bevor sie jedoch therapeutische Hilfe bekommen können, müssen sie diese beim Sozialamt beantragen und zu einer Begutachtung durch den Amtsarzt gehen. „Die Stadt München gewährt fast immer Hilfe, aber es vergehen in der Regel mindestens sieben Monate“, so Soyer.

Christine Kamm ergänzte, dass in Bayern derzeit 9.000 geduldete Flüchtlinge leben würden, davon 6.000 seit über fünf Jahren. „Wir müssen den Aspekt der Desillusionierung und den Verlust von Motivation und Eigeninitiative bei diesen Langzeitaufenthalten ohne Arbeitserlaubnis und ohne Chance auf eine Traumatherapie berücksichtigen. Allen Zuständigen muss klar sein: Eine ambulante therapeutische Behandlung hilft schneller, ist langfristig nachhaltiger und kostet weniger, als eine stationäre Behandlung“, so die asylpolitische Sprecherin der Landtagsgrünen.

Die Arbeit von Refugio gliedert sich in drei Schwerpunkte: Im Haupthaus in der Münchner Rosenheimer Straße werden hauptsächlich Trauma-Therapien angeboten.  Aus ihrer Heimat kennen viele Flüchtlinge diese Art der Behandlung nicht. „In vielen Kulturen werden Probleme in der Gemeinschaft besprochen, wir haben deshalb gute Erfahrungen mit Gruppengesprächen gemacht“, berichtete Soyer. Derzeit gibt es zehn Therapiegruppen bei Refugio. Die größte Hürde ist die Scham der Opfer, über ihr Leid zu sprechen. Sie finden Trost in der Erkenntnis, dass auch andere Menschen ähnliche Erfahrungen machen mussten und bis heute unter den Folgen leiden. Nach Flucht, Misshandlung und Demütigung hilft auch eine ruhige, geschützte Umgebung und regelmäßige Treffen mit der Gruppe. Zusätzlich zu den Gruppen werden Einzeltherapien angeboten; gegenwärtig sind zum Beispiel 70 Kinder in Behandlung.

Der zweite Schwerpunkt der Refugio-Arbeit ist die Kunstwerkstatt. Mit einer Kombination aus Musik- Mal- oder Breakdance-Workshops und Therapien gehen die Refugio-Mitarbeiter in Asylbewerberheime. „Das dient vor allem der Stabilisierung von Kindern. Würde man sie separat diagnostizieren, müsste man zwingend eine Therapie verordnen. In der Gruppe gelingt es uns, Ressourcen der Kinder zu aktivieren. Wir wollen ihnen außerdem vermitteln: Ihr seid nicht „krank“, ihr habt Schlimmes erlebt und bekommt deshalb jetzt Hilfe und Stärkung“, so Soyer.

Das muttersprachliche Elterntraining ist die dritte Säule der Refugio Aktivitäten. Die Eltern sind meist durch die äußeren Flucht- und Lebensumstände so belastet, dass sie sich nicht intensiv um ihre Kinder kümmern können. Ein 12-stufigen Manual macht die Eltern mit dem Erziehungssystem und den Erziehungswerten in Deutschland vertraut, klärt aber gleichzeitig, welche Wertvorstellungen sie aus ihrer Heimat mitbringen. Die Eltern bekommen dadurch die Fähigkeit, zwischen den Erziehungsprinzipien zu pendeln.
Irene Alte und Christine Kamm bedankten sich abschließend für den vielseitigen und inspirierenden Input.

Dringend nötig: Willkommens- und Anerkennungskultur

Bei dem anschließenden Fachgespräch im Bayerischen Landtag berichtete Irene Alt ausführlich über ihre Asylpolitik. Die Bundesländer haben weitreichende Aufgaben im Bereich der Asylpolitik und Integration. Rheinland-Pfalz ist bisher das erste Bundesland, in dem das Thema Integration im gleichen Ministerium wie Familien, Jugend und Frauen angesiedelt ist. Eine klare Aufwertung, findet Alt. Für die Grüne Ministerin ist die gleichberechtigte Teilhabe von allen Teilen der Gesellschaft ein Leitmotiv ihrer Politik: „Mir ist es wichtig, das „Wir“ in der Gesellschaft zu stärken. Nur ein offenes und solidarisches Zusammenleben macht das Land zukunftsfähig. Wir brauchen eine Willkommens- und Anerkennungskultur im Land.“
Diesem Leitbild folgend, hat Irene Alt als ersten Schritt die Residenzpflicht für AsylbewerberInnen in Rheinland-Pfalz abgeschafft. Schon lange vor dem kürzlich beschlossenen bundesweiten Aus für die Residenzpflicht verhandelte sie mit benachbarten Bundesländern über grenzüberschreitendes Leben und Arbeiten für Flüchtlinge.

Die Abschaffung der Abschiebehaft ist eine weitere Kernforderung der Integrationsministerin. „Abschiebehaft ist keine Strafhaft. Sie ist eine unwürdige Verwaltungshaft“, so Alt. Solange sie nicht bundesweit abgeschafft wird, versuche sie in Rheinland-Pfalz die Abschiebehaft auf Landesebene zu vermeiden. Mit dem rheinland-pfälzischen Abschiebehaft-Vermeidungserlass werden besonders schutzwürdige Gruppen, vor allem Minderjährige, ältere Menschen, Traumatisierte,  und schwangere Frauen, von der Haft ausgenommen. Zusätzlich wurden Amtsrichter in Schulungen mit allen gesetzlichen Möglichkeiten vertraut gemacht. Das Ergebnis in Rheinland Pfalz ist beeindruckend: Irene Alt hat zunächst die Plätze im Abschiebegefängnis von 150 auf 50 reduzieren können: Belegt sind derzeit im Schnitt nur 10-18 Plätze.
Wenn sich die Haft nicht vermeiden lässt, wird sie so humanitär wie möglich gestaltet. Dazu gehört der Umbau des Abschiebegefängnisses. Einzelzimmer, Sakralräume und der Abbau von Gittern und Zäunen sollen dem Gebäude soweit möglich den gefängnisartigen Charakter nehmen. Zudem hat die freiwillige Rückkehr und die Beratung für eine Heimkehr in Würde und mit beruflicher Unterstützung stets Vorrang vor der Abschiebung.

Auch im Bereich der Sprachkurse geht Irene Alt neue Wege. Bisher sind Asylsuchende von den Sprachkursen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ausgeschlossen. Deshalb werden in Rheinland-Pfalz aus eigenen Landes- und EU-Mitteln eigene Sprachkurse finanziert. Die EU-Fördermittel kommen aus dem Europäischen Sozialfond und werden mit Beginn der neuen Förderperiode 2015 in etwa verdreifacht. „Diese Maßnahme ist zwar ein guter erster Schritt, aber die Sprachförderung des BAMF muss auch langfristig für Asylsuchende geöffnet werden“, so Alt. Christine Kamm unterstrich diese Forderung: „Wir dürfen nicht die Zeit verstreichen lassen, wenn die Menschen hochmotiviert zu uns kommen und lernen möchten!“

Bei der Auswahl der Unterkünfte für Flüchtlinge wird in Rheinland-Pfalz Wert darauf gelegt, dass die Immobilien ortsnah sind, möglichst eine Busanbindung haben und soziale Betreuungsstrukturen zur Verfügung stehen. Zusätzlich sorgt das Grüne Landesaufnahmegesetz dafür, dass die Flüchtlinge spätestens nach drei Monaten aus den Sammelunterkünften in diese kleinen, dezentralen Gebäude umziehen können. Diesbezüglich lägen Welten zwischen Bayern und Rheinland-Pfalz, bedauerte Christine Kamm. „In Bayern müssen manche Flüchtlinge viele Jahre lang in Gemeinschaftsunterkünften leben“.


Für die Zukunft hat Alt weitere Pläne: „Wir wollen die Gesundheitskarte für die medizinische Versorgung einführen. Am liebsten wäre uns eine Gleichstellung aller Hilfeempfänger im Gesundheitssystem durch eine Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Wenn dies in Berlin nicht durchsetzbar ist, wird es andere Lösungen geben, unter Einbeziehung der Kommunen  – wie genau das funktionieren wird, ist noch offen“, so Alt.