Sozialpolitik

Jugendarmut bekämpfen – Jugendhilfe stärken

Damit Jugend eine Zukunft hat

26. Februar 2021

Jugendarmut ist ein erstzunehmendes, sich zuspitzendes und zu häufig generationsübergreifendes Problem. Im Frühjahr 2020 galten in Bayern etwa 320.000 junge Menschen zwischen 14 und 25 Jahren als Betroffene von Jugendarmut.* In Armut zu leben bedeutet Mangel, Deprivation und soziale Ausgrenzung ständig und dauerhaft zu erleben. Armut resultiert in einer deutlich geringeren Lebenserwartung und wird in Deutschland viel zu häufig an die nächste Generation weitergegeben: Der soziale Aufstieg, den gerade Jugendliche meistern können sollten, gelingt in Deutschland und auch in Bayern zu selten. Durch Corona wird sich die Lage leider nur noch verschlechtern. Langwierige nachteilige Effekte in Bezug auf den Bildungserfolg und die Berufsintegration von sozialbenachteiligten Jugendlichen sind zu befürchten. Wir Landtags-Grüne starten deshalb eine grüne Offensive für bayerische Jugendliche und bringen ein Antragspaket in den Bayerischen Landtag ein, das konkrete wie effektive Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendarmut und Stärkung der Jugendhilfe in Bayern enthält.
So wie Armut nachhaltige nachteilige Effekte für das Individuum, den Sozialraum und die Gesellschaft hat, so haben wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut auch das Potenzial, nachhaltig positive Effekte zu entfalten, die weit über das Individuum hinausreichen. Die Kinder- und Jugendhilfe ist ein wesentlicher Akteur bei der Unterstützung von Jugendlichen in Risikolagen und in Übergangssituationen. In der Kinder- und Jugendhilfe werden sozialstaatliche Unterstützungsleistungen und pädagogische Zugänge gebündelt. Wenn diese betroffenen Jugendliche niederschwellig und unbürokratisch erreichen, können sie auch effektiv Jugendarmut eindämmen und den Jugendlichen von der Armutserfahrung versperrte Wege und Möglichkeiten neu ebnen.  
Jugendarmut bekämpfen und Jugendhilfe stärken: Wir bündeln Maßnahmen, die gezielt Jugendarmut in Bayern verringern und dadurch sowohl die Bildungschancen von Jugendlichen verbessern als auch nachhaltig den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken können. Die Kinder- und Jugendhilfe ist bereits jetzt ein wesentliches Instrument der Bekämpfung von Jugendarmut, sie soll daher hier auch gezielt gestärkt ausgebaut werden.

* vgl. Drs. 18/7118, S. 3-4 (eigene Berechnung der Armutsgefährdungsquote auf Basis des Landesmedian)

Antrag I: Jugendarmut Monitor einführen
Um die konkrete Situation sozialbenachteiligter Jugendlichen in Bayern im Blick zu behalten und frühzeitig, gezielt und effektiv reagieren zu können, aber auch um den Erfolg staatlich finanzierter Programme evaluieren zu können, braucht es eine verlässliche, stets aktuell gehaltene Datenlage. Expert*innen aus Wissenschaft, Fachpraxis und politischer Steuerung kämen bei der Konzeption und der Dateninterpretation des Jugendarmut Monitors zusammen, um wirksame Maßnahmen planen, umsetzen und evaluieren zu können.

Antrag II: Hilfen für wohnungslose junge Erwachsene
Wohnungslose Jugendliche sind besonders vulnerabel und geraten leicht in Abhängigkeitsbeziehungen, gekennzeichnet von Misshandlung, sexuellem Missbrauch und Substanzmissbrauch. Insbesondere sog. „Care Leavers“, also Jugendliche, die mit 18 Jahren oder nach Abschluss einer ersten Ausbildung das System der „Kinder- und Jugendhilfe“ verlassen, ohne die Möglichkeit, auf familiäre Netze zurückgreifen zu können, fehlt bei Wohnungslosigkeit neben dem Dach über dem Kopf auch verlässliche Unterstützung durch vertraute Erwachsene. Hier braucht es pädagogisch begleitete Wohnformen für junge Wohnungslose.

Antrag III: Staatliche Förderung für evidenzbasierte Mentoringprogramme für benachteiligte Jugendliche ausweiten
Mentoringprogramme wie „Rock Your Life“ für die Unterstützung sozialbenachteiligter Jugendlicher beim Schulabschluss und beim Übergang in Ausbildung oder Beruf sind, wie eine aktuelle Studie des ifo-Instituts zeigt, eine erfolgversprechende Maßnahme gerade für diejenigen Jugendlichen, denen es an familiärer Unterstützung rund um den Schulabschluss mangelt. Der Erfolg spricht für sich: Wohlbefinden, Verhalten, Selbstvertrauen, Schulnoten und Arbeitsmarktaussichten verbessern sich – nach nur einem Jahr eins-zu-eins-Mentoring durch ehrenamtliche Studierende. Mentoring-Programme, deren Wirksamkeit wissenschaftlich überprüft wird, haben das Potenzial, die Bildungs- und Berufsbiografie benachteiligter Jugendlicher nachhaltig positiv zu beeinflussen.

Antrag IV: Ausbildungsgarantie einführen, assistierte Ausbildung stärken  
Der Einstieg in die Berufsausbildung und deren erfolgreichen Abschluss sind ein vielversprechender Weg aus der Armut. In Bayern gibt es zwar genügend Ausbildungsplätze und ausreichend Betriebe mit Nachwuchssorgen, jedoch funktioniert die Vermittlung von Azubis an Unternehmen zu häufig nicht, besonders sozialbenachteiligte Jugendliche haben Schwierigkeiten beim Übergang in eine Ausbildung. Die Ausbildungsgarantie greift genau an dieser Stelle: Jugendliche, denen es nicht gelingt, eigenständig einen Ausbildungsplatz zu erhalten, bekommen ein verbindliches, staatlich finanziertes Angebot für eine betriebsnahe Ausbildung. Möglichkeiten, diese auch als assistierte Ausbildung zu absolvieren, verringern die Wahrscheinlichkeit für Ausbildungsabbrüche und ebnen den Weg hin zum erfolgreichen Berufsabschluss.

Antrag V: Schul- und Jugendsozialarbeit im Freistaat stärken und ausbauen
Armut bedeutet häufig auch Bildungsbenachteiligung, und zwar von Anfang an. Wir fordern eine systematische Begleitung der von Armut betroffenen Jugendlichen in der Schule, um erfolgreiche Bildungskarrieren zu ermöglichen und bei Belastung und Benachteiligung gezielt Unterstützung zu bieten. Die Schulpflicht ist eine wichtige Errungenschaft des Sozialstaates, durch Bildungsbeteiligung und Bildungserfolg soll gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht werden. Das ist nicht nur in hochbelasteten Sozialräumen und an sog. „Brennpunktschulen“ notwendig. Jeder*m Jugendlichen sollte ein solcher niederschwelliger Zugang in jeder bayerischen Schule von der ersten Klasse an zur Verfügung stehen.

Antrag VI: Mittel zu direkter und unbürokratischer Unterstützung von armen Schüler*innen zur Verfügung stellen
Jede*r Jugendliche in Deutschland besucht eine Schule und kann zuallererst dort erreicht und aufgefangen werden. Damit Armut nicht zwangsweise und nicht jedes Mal zur Anregungsarmut, Rückzug und sozialem Ausschluss führt, damit aus materieller Deprivation nicht Bildungsbenachteiligung wird und damit nicht jede Ausgabe in der Schule zur psychischen Belastung wird, reichen häufig schon geringe Geldmittel. Gezielt, unkompliziert und diskret eingesetzt können solche Mittel helfen, systematische Benachteiligung und Belastung in der Schule abzubauen.

Antrag VII: Lehrkräfte für armutssensibles Handeln weiterbilden
Unsere Lehrkräfte haben hier auch einen pädagogischen Auftrag. Von Armut betroffene Jugendliche gibt es an jeder bayerischen Schule, auch weil Armut relativ zum sozialen Umfeld definiert wird. Benachteiligung manifestiert sich unter anderem auch in den Erwartungen und pädagogischen Zugängen der Lehrkräfte. Im Zuge einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung sollen Lehrer*innen auch dazu befähigt werden, armutsbedingte Benachteiligung zu erkennen und ihr pädagogisch angemessen zu begegnen. Durch Weiterbildung von Multiplikator*innen kann an jeder Schule der systematischen Bildungsbenachteiligung der von Armut betroffenen Jugendlichen effizient entgegengewirkt werden.

Antrag VIII: Selektivität und soziale Inklusion der bayerischen Begabtenförderung prüfen
Besonders resiliente und leistungsstarke Jugendliche schaffen manchmal durch Beharrlichkeit und Intellekt ihren eigenen sozialen Aufstieg, bahnen sich schon früh einen Weg aus Armut und Benachteiligung und finden manchmal auch geeignete Unterstützung. Ein Instrument der staatlichen Förderung solcher Jugendlicher sind Begabtenförderprogramme, manche, wie beispielsweise das Programm „Talent im Land – Bayern“, wenden sich gezielt an sozial benachteiligte Jugendliche. Bei anderen Programmen, wie beispielsweise bei den Begabtenförderwerken für Studierende, wird soziale Benachteiligung berücksichtigt, wenn Leistungsfähigkeit und Potenzial in den Auswahlverfahren eingeschätzt werden. Diese Programme sind allerdings häufig von unterschiedlich starken sozialen Verzerrungen betroffen: Bildungsnähe reproduziert sich ähnlich wie Bildungsbenachteiligung. Daher fordern wir, die vorhandenen Förderprogramme diesbezüglich auf den Prüfstein zu stellen. So kann man diese im Nachklang an der Berichtslegung auch gezielt verbessern.

Antrag IX: Kinder- und Jugendhilfe aufwerten
Die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe bekämpfen Jugendarmut und Benachteiligung seit Jahren mit einer Fülle an Maßnahmen und pädagogischen Unterstützungsangeboten. Wir fordern, die gesellschaftliche Anerkennung des Berufsfeldes zu verbessern und zugleich seine Attraktivität für Nachwuchskräfte zu steigern. Auch die Kinder- und Jugendhilfe unterliegt der Herausforderung eines immensen Fachkräftemangels – deutschlandweit werden bis 2025 schätzungsweise rund 125.000 Mitarbeiter*innen in diesem Bereich fehlen. Die bestehende „Herzwerker“-Kampagne der Staatsregierung versäumt es, die hohe Professionalität dieses Berufszweiges zu fokussieren. Das wollen wir ändern. Auch die Rahmenbedingungen in der Kinder- und Jugendhilfe sollen nachhaltig verbessert werden: von der Ausbildung, über die Gesundheitsvorsorge und der Weiterbildung bis hin zur Berentung.

Antrag X: Eigenmittel der Jugendhilfe flexibilisieren
Zu den Rahmenbedingungen der Kinder- und Jugendhilfe gehört es auch, sich an Ausschreibungen bei privaten und öffentlichen Förderern zu beteiligen. Die so eingeworbenen, häufig befristeten Projekte können wertvolle Ergänzungen in der Kinder- und Jugendhilfe sein. Meistens sind solche Ausschreibungen verbunden mit der Forderung, einen Anteil an Eigenmitteln zu nutzen. Dies ist nicht nur bei befristeten Projektausschreibungen, sondern auch bei der kommunalen Förderung von Jugendhilfe, die die Grundfinanzierung bildet, der Fall. Gegenwärtig werden als Eigenmittel bei solchen Ausschreibungen auf kommunaler und auf Landesebene ausschließlich Geldvermögen anerkannt, Infrastruktur oder in Ehrenamt erbrachte Leistungen können nicht geltend gemacht werden. Dadurch können sich kleinere Träger der Kinder- und Jugendhilfe die Ausweitung des eigenen Leistungsspektrums häufig nicht leisten.