Untersuchungsausschüsse

Kein Schlussstrich

Bilanz der Landtags-Grünen zum zweiten NSU-Untersuchungsausschuss

06. Juli 2023

Der zweite Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags zum NSU-Komplex (UA NSU II) hat innerhalb eines Jahres ein enormes Untersuchungsprogramm absolviert. In 35 Sitzungen des Ausschusses wurden 68 Zeug*innen, acht sachverständige Zeug*innen und drei Sachverständige angehört bzw. vernommen. Allein die Sitzungsprotokolle umfassen mehrere Tausend Seiten. Der gesamte Aktenbestand des Ausschusses umfasst 12.025 Akten, wobei manche Aktennummern umfangreiche Aktenkonvolute beispielsweise der BAO Bosporus oder der KG ReTeEx beinhalten. Bis Mitte März 2023 lagen dem UA lediglich die Hälfte der angeforderten Akten vor. So wurden rund 5.800 Akten, die bereits im Juli 2022 angefordert worden sind, erst am 20. März 2023 zugeliefert. Ein erheblicher Teil der Akten enthielt zudem Lücken bzw. ‚Schwärzungen‘ aufgrund fehlender Freigaben durch die beteiligten Behörden. Selbst bis zum Ende der Beweisaufnahme des Ausschusses konnten nicht alle Freigabeverfahren abgeschlossen werden. Ein erheblicher Teil der dem UA zugelieferten Akten (340 GB) unterliegt dem Verschlussgrad ‚VS – Nur für den Dienstgebrauch‘ und durfte nicht in öffentlicher Sitzung verwandt werden. 855 Akten wurden als ‚VS Vertraulich‘ oder ‚Geheim‘ eingestuft und konnten lediglich in nichtdigitalisierter Form unter Geheimschutzbedingungen im Landtag oder digitalisiert (150 GB) im Landesamt für Verfassungsschutz eingesehen werden. Durch diese Umstände wurden die Sichtung, Auswertung und Verwendung des Aktenmaterials und damit die Arbeit des Ausschusses erheblich erschwert.

Zentrale Erkenntnisse aus den Zeugen*innenvernehmungen und Recherchen des UA NSU II

Kontakte des NSU und seiner Unterstützer nach Bayern vor dem Abtauchen in den Untergrund

Der Ausschuss konnte durch seine Untersuchungstätigkeit viele Hinweise und Indizien für Kontakte und Verbindungen des späteren NSU-Kerntrios und seines engeren Umfelds nach Bayern zusammentragen. Beweise für Kontakte des Kerntrios zu bayerischen Rechtsextremisten nach dem Untertauchen im Jahr 1998 konnten jedoch nicht erbracht werden. Auch eine Unterstützung durch bayerische Rechtsextremisten bei der Planung und Ausführung der Morde und Anschläge in Bayern konnte nicht nachgewiesen werden. Allerdings war der Untersuchungsausschuss bei seiner Arbeit natürlich weitgehend von den Akteninhalten abhängig, welche die Behörden zusammengestellt haben – oder eben auch nicht.

Trotzdem gibt es Hinweise auf mögliche Verbindungen des NSU nach Bayern, von denen hier einige exemplarisch aufgeführt werden:

  • Durch den Versand des NSU-Spendenbriefs im Jahr 2002 wurde die Existenz des NSU zumindest in Teilen der rechtsextremen Szene bekannt, ohne dass dies durch die zuständigen Sicherheitsbehörden registriert wurde. Zu den Empfängern des NSU-Briefs und einer damit verbundenen Geldspende gehörte das rechtsextreme Heft ‚Der Weiße Wolf‘, das in den 90er-Jahren von Maik F. herausgegeben wurde, der mit der fränkischen HNG-Aktivistin Sylvia F., geborene E., verheiratet war. Zum Zeitpunkt der NSU-Spende war jedoch ein Rechtsextremist aus Mecklenburg-Vorpommern Herausgeber des „Weißen Wolfs“. In dessen Ausgabe 1/2002 steht unter dem Vorwort: „Vielen Dank an den NSU, es hat Früchte getragen. ;-) Der Kampf geht weiter...“ Ausweislich von Aufzeichnungen, die im Brandschutt der Zwickauer NSU-Wohnungen gefunden wurden1 , könnte auch das Neonazi-Fanzine ‚Der Landser‘ zu den Empfängern des NSU-Briefs gehört haben. Bereits in der vierten Ausgabe des ‚Landser‘, die Ende der 90er-Jahre herauskam, finden sich Grüße an „die Untergrundkämpfer“ – wobei unklar ist, wer damit gemeint ist. Matthias F., der als Herausgeber des Heftes gilt, findet sich auf der sog. ‚Garagenliste‘, einer Telefonliste des Uwe Mundlos aus der Zeit vor dem Untertauchen. Auch der Coburger Verlag ‚Nation & Europa‘ findet sich auf einer Adressliste für den Versand des NSU-Spendenbriefs. Der Geschäftsführer des Verlags hatte zuvor laut einer Zeugenaussage im Ausschuss2 eine größere Geldsumme an den NSU gespendet.
  • Eine der Bekenner-DVDs des NSU wurde im November 2011 unfrankiert im Briefkasten der ‚Nürnberger Nachrichten‘ vorgefunden, was durch Zeugenaussagen von Mitarbeitern und Redakteuren im Ausschuss überzeugend belegt worden ist. Es muss also mindestens eine weitere Person im Besitz der Bekenner-DVD des NSU gewesen sein. Dies ist ein starkes Indiz für mögliche Mitwisser und Unterstützer des NSU im Raum Nürnberg.
  • Das NSU-Kerntrio hatte einen besonderen Bezug nach Nürnberg: Der Zeuge M.T. gab an, dass das Trio Mitte der 1990er Jahre in der von ihm angemieteten Wohnung in der Marthastr. 63 in Nürnberg Mögeldorf mehrfach zu Besuch war. Die Wohnung in der Marthastraße war Mitte der 90er Jahre ein wichtiger Treffpunkt der rechten Szene in Nürnberg. Laut dem Zeugen seien die ‚Thüringer Kameraden‘ damals allen führenden Aktivisten in Nürnberg bekannt gewesen. Laut Aussage eines anderen führenden Aktivisten der rechten Szene in Nürnberg sollen ‚Thüringer‘ eventuell sogar einen eigenen Schlüssel für die Wohnung in der Marthastraße gehabt haben. Mit der Aussage von M.T: im UA NSU II hat somit erstmals ein ehemaliger Szeneakteur ausgesagt, dass es Kontakte zwischen dem späteren NSU-Trio und Nürnberger Rechtsextremisten gegeben hat.
  • Beate Zschäpe war zudem bis kurz vor ihrem Untertauchen mit dem Schwager des verurteilten NSU-Unterstützers Ralf Wohlleben, David F., liiert, der von 1995 bis August 1998 in Nürnberg gelebt hat. F. sagte im Ausschuss aus, dass ihn Beate Zschäpe einmal in Nürnberg besucht habe

V-Mann Kai D. und seine Rolle beim Aufbau der rechtsextremen Szene in Bayern und Thüringen

Kai D. war nach eigenen Angaben und nach Angaben des Landesamtes für Verfassungsschutz Bayern (BayLfV) als V-Mann für den bayerischen Verfassungsschutz tätig. In seiner Aussage vor dem Ausschuss legte er großen Wert auf die Feststellung, dass er niemals Rechtsextremist gewesen sei. Trotzdem war er über Jahre als Vollzeitaktivist in der rechten Szene eingesetzt und hatte bundesweit Kontakte zu vielen wichtigen Akteuren der rechtsextremen Szene der 90er Jahre. Sollte er tatsächlich von außen gezielt in die rechte Szene eingeschleust worden sein, entspricht sein Einsatz eher dem typischen Vorgehen von ‚verdeckten Ermittlern‘ bzw. ‚geheimen Mitarbeitern‘ von Sicherheitsbehörden.

D. wurde vom BayLfV mit der Informationsbeschaffung und dem Knüpfen politischer Kontakte in Thüringen beauftragt. Er war dort von Anfang der 90er Jahre bis 1996/97 eingesetzt. D. hat in Thüringen am Aufbau politischer Strukturen mitgewirkt. Sein Einsatz trug zur Vernetzung verschiedener Kameradschaften unter dem Dach der ‚Anti-Antifa-Ostthüringen‘ und später zur Gründung des ‚Thüringer Heimatschutzes‘ (THS) bei. Tino Brandt, V-Mann des Thüringer Verfassungsschutz und Führungskader des THS, hat in seiner Vernehmung angegeben, dass er zu Beginn seiner Aktivitäten Kai D. als seinen Führungskader im Westen angesehen habe. D. hat zum Aufbau der Szene-Strukturen beigetragen, aus denen später der NSU hervorgegangen ist.

Laut Aussage von Tino Brandt muss davon ausgegangen werden, dass D. durch seine Teilnahme an den Stammtischen und Führungskadertreffen des THS auch die Mitglieder des späteren NSU-Kerntrios kennengelernt hat. D‘s Handynummer und sein abgekürzter Name4 stehen handschriftlich vermerkt auf der Garagenliste von Uwe Mundlos.

Aussagen von Beate Zschäpe vor dem UA NSU II

Dem UA NSU II ist es als erstem Gremium gelungen, eine mündliche Vernehmung von Beate Zschäpe durchzuführen. Auch wenn ihre Aussagebereitschaft vor dem UA im Hinblick auf mögliche Hafterleichterungen und eine Verkürzung der Reststrafe taktisch motiviert sein könnte – sie hat ohne Hilfe durch ihren Anwalt zu den meisten Fragen Stellung genommen. Ihre Aussagen liefern wichtige Bausteine zum Verständnis des NSU und seiner Vorgeschichte.

Laut Aussage von Zschäpe hat der V-Mann Tino Brandt in führender Position zur Organisierung und Professionalisierung der rechtsextremen Szene in Ostthüringen beigetragen. Erst durch B. seien überregionale Organisationen wie der Thüringer Heimatschutz entstanden. Ein Telefonat von Mundlos und Böhnhardt mit Tino Brandt in einer Coburger Telefonzelle hätte laut Zschäpe schon 1998 zur Verhaftung des Trios führen können. B. behauptet in seiner Aussage vor dem UA NSU II, dass er seinem VMann-Führer von diesem Telefonat berichtet habe.

Laut Zschäpe seien die Morde des NSU im Unterschied zu den Banküberfällen aus Sicherheitsgründen in großen Entfernungen von den jeweiligen Wohnorten begangen worden. Der NSU habe nicht damit gerechnet, dass sich die Ermittlungen der Behörden derart auf die Opfer und ihr Umfeld konzentrieren und sie als flüchtige Rechtsextremisten überhaupt nicht in den Fokus geraten würden.

Zschäpe bekannte sich – soweit öffentlich bekannt – im UA NSU II erstmals uneingeschränkt dazu, dass sie an den NSU-Morden mitschuldig sei. Sie schloss in ihrer Vernehmung nicht aus, dass Böhnhardt und Mundlos weitere Verbrechen begangen haben könnten, die dem NSU noch nicht zugeordnet werden können.

Rassismus war laut Zschäpe das entscheidende Motiv für die Morde des NSU: „Einfach Rassenhass. So würde ich es nennen.“ Die ermordeten Menschen selbst seien ‚Zufallsopfer‘ gewesen. Die Auswahl der endgültigen Tatorte sei nach Kriterien wie Lage und Fluchtmöglichkeiten erfolgt.

Das Ausspionieren der Tatorte und die Tatausführung hätten immer zeitlich versetzt stattgefunden. Damit widerspricht Zschäpe der These, dass bestimmte Morde des NSU – wie der Mord an Theodorus Boulgarides – spontane Gelegenheitstaten gewesen seien, die anlässlich von Ausspähfahrten ausgeführt wurden.

Ermittlungen zu möglichen Ankerpunkten des NSU in Bayern

Das BKA hat bereits zu einem frühen Zeitpunkt im Herbst 2012 keine Notwendigkeit für weitere Abklärungen und Überprüfungen im Zusammenhang mit der sog. ‚Ankerpunkttheorie‘ gesehen. Dabei werden in einem Bericht der BAO Trio aus dem August 2012 noch zahlreiche Hinweise auf mögliche Verbindungen zwischen dem NSU-Umfeld und Rechtsextremisten in Bayern aufgelistet. Das Polizeipräsidium München musste weitere Ermittlungen zu möglichen Unterstützungshandlungen Münchner Rechtsextremisten als Logistiker, Tipp- und Wohnsitzgeber des NSU erst vehement beim BKA einfordern.

Wichtige Ermittlungsschritte, wie die Vernehmung eines Münchener Neonazis aus dem Umfeld der Kameradschaft Süd, der in direkter Nähe des Tatortes des Mordes an Habil Kılıç gewohnt hat, wurden verschlampt.6 Auch das LKA Bayern hat im Juni 2013 anlässlich der Vorlage eines Ermittlungsberichtes weitere Ermittlungen zur Abklärung möglicher Ankerpunkte des NSU in Bayern angeregt. Auch hier reagiert das BKA abweisend und sieht keine Anhaltspunkte für eine Neubewertung der Ankerpunkttheorie.7 Ein vom BKA in Aussicht gestelltes strategisches Konzept zur Thematik ‚Ankerpunkte des Trios‘ samt Neubewertung aller bisher bekannten Hinweise zu diesem Thema wurde offenbar niemals vorgelegt.

Offenbar haben sich BKA und Bundesanwaltschaft bereits zu einem relativ frühen Zeitpunkt auf die Hypothese von einem abgeschotteten Tätertrio mit einem ganz kleinen Kreis an Helfern und Unterstützern festgelegt. Dies entspricht auch der Anklagekonstruktion der Bundesanwaltschaft im NSU-Prozess vor dem Münchener Oberlandesgericht.

Politische Bewertung der Arbeit der bayerischen Innenminister im NSU-Komplex

Die fünf Morde, welche der NSU in Nürnberg und München zwischen September 2000 und Juni 2005 verübte, fielen alle in die Zuständigkeit des früheren Innenministers Günther Beckstein. Beckstein gibt an, er habe sehr früh ein rechtsextremes Motiv für möglich gehalten, konnte damit aber bei seinen Ermittlern nicht durchdringen. Auch eine stärkere Ausrichtung der Sicherheitsbehörden auf die tatsächliche Gefahrenlage im Bereich des Rechtsterrorismus und notwendige Reformen in der polizeilichen Ausbildung wurden versäumt.

Staatsminister a. D. Beckstein hatte das wachsende Risiko der terroristischen Gefahr von rechts zwar zumindest im Ansatz erkannt. Es fehlte ihm jedoch an der politischen Kraft oder dem politischen Willen, seine Behörden im Phänomenbereich Rechtsextremismus zu reformieren und sie dadurch in die Lage zu versetzten, die Taten des NSU möglicherweise zu verhindern oder aufzuklären.

Becksteins Nachfolger Innenminister Joachim Herrmann, der seit 2007 im Amt ist, zeigte bis zur Enttarnung des NSU im Jahr 2011 überhaupt kein Interesse an der ungeklärten Mordserie an fünf Migranten in Bayern. Laut seiner Aussage im UA NSU II handelte es sich für ihn um einen sog. ‚Cold Case‘.

Beide Staatsminister des Innern im NSU-Komplex, Beckstein und Herrmann, versäumten es, die Polizei- und Verfassungsschutzbehörden rechtzeitig auf die reale terroristische Gefahr von rechts hin auszurichten. Es wäre ihre politische Sorgfaltspflicht gewesen, darauf als oberste Dienstherren konsequent hinzuwirken. Im Schatten dieser Versäumnisse konnte die NSU-Terroristen und mindestens ein späterer Täter in Bayern aus rechtsterroristischen Motiven morden.

Zitate:

Toni Schuberl, Vorsitzender Untersuchungsausschuss NSU II im Bayerischen Landtag und rechtspolitischer Sprecher der Landtags-Grünen: „Der NSU-Untersuchungsausschuss war unverzichtbar und hat erfolgreich gearbeitet. Durch die Sichtung der Akten, die Recherchen von Sachverständigen und die Vernehmung zahlreicher Zeugen konnten viele relevante neue Hinweise und Beweise gewonnen werden.“

„Es hat sich herausgestellt, dass Bayern mit dem Einsatz mindestens eines V-Mannes dafür mitverantwortlich ist, dass die rechtsextreme Szene nicht nur in Nordbayern, sondern bundesweit und insbesondere in Thüringen erheblich gestärkt, professionalisiert, finanziert und organisiert worden ist. Aus dieser Szene heraus hat sich der NSU entwickelt.“

Cemal Bozoğlu, Mitglied im Untersuchungsausschuss NSU II im Bayerischen Landtag und Sprecher für Strategien gegen Rechtsextremismus: „Wir konnten herausarbeiten, dass der fehlende Blick nach rechts bei den Ermittlungen vor der Selbstenttarnung des NSU strukturelle Ursachen hatte. Wir haben festgestellt, dass in den Ermittlungen nach der Selbstenttarnung bereits nach kürzester Zeit die Theorie des abgeschotteten Trios vorherrschend war. Wichtige Ermittlungsansätze und Bemühungen von bayerischen Polizisten wurden durch die Bundesebene abgewürgt, ohne dass sich der bayerische Innenminister hinter seine Beamten gestellt hätte.“

„Und nicht zuletzt waren wir als Untersuchungsausschuss die erste und letzte Instanz, die den Vorgang des Taschenlampenattentats, der erste bekannte Anschlag des NSU, umfassend öffentlich aufarbeiten konnte. Das alles sind wertvolle neue Erkenntnisse für die Aufarbeitung dieser Verbrechensserie und für die Angehörigen der Opfer des NSU."