Flüchtlinge in Bayern – Allein mit ihrem Trauma? Grünes Fachgespräch im Bayerischen Landtag

<p><strong>Wie viele Flüchtlinge kommen traumatisiert in Deutschland an?</strong> Wie kann ihnen trotz Sprachbarrieren und Kulturunterschieden geholfen werden? Welche Hilfe existiert bereits und wie groß ist der Bedarf an weiteren Hilfsangeboten? Diese Fragen standen im Mittelpunkt <a href="https://www.facebook.com/media/set/?set=a.887369974704618.1073741940.330148333760121&amp;type=3">eines Grünen Fachgespräches im Bayerischen Landtag</a>.</p>

13. November 2015

Auf Einladung der asylpolitischen Sprecherin Christine Kamm (MdL) und des Sprechers für Gesundheit und Pflege, Ulli Leiner (MdL), stellte Dr. Sigrid Aberl, Oberärztin für Kinder- und Jugendpsychosomatik am Klinikum rechts der Isar TU München, die noch nicht veröffentlichten Studie „Psychosozialer Versorgungsbedarf bei Flüchtlingskindern und deren Familien“ vor. Über die aktuelle Situation in Betreuung und Therapie von traumatisierten Flüchtlingen informierten Jürgen Soyer, von Refugio München e.V., einem Beratungs- und Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer, sowie Dr. Daniel Drexler, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, der  eine Flüchtlingspraxis in Rosenheim führt.

40,8 % der Flüchtlingskinder haben psychische Probleme

„Während wir die somatischen Erkrankungen relativ schnell bewältigen können, stehen wir bei den psychischen Erkrankungen erst am Anfang. Hier gilt es Sprachbarrieren und kulturelle Unterschiede zu überwinden“, sagte Ulli Leiner. Christine Kamm betonte: „Wir wollen, dass diese besonders Schutzbedürftigen auf eine anständige Art und Weise hier bei uns aufgenommen werden und auf sie Rücksicht genommen wird. Dabei spielt der Zugang zur psychotherapeutischen und psychiatrischen Versorgung für traumatisierte Flüchtlinge und deren Kindern eine wichtige Rolle.“

Ein Positionspapier der Landtags-Grünen zum Thema "Psychotherapeutische und psychosoziale Versorgung von Asylsuchenden finden Sie hier

40,8 % der Kinder in Flüchtlingsfamilien haben psychische Probleme. Dazu gehören Einnässen, Stottern, Essensverweigerung und Angstzustände. 22,3 % von ihnen leiden unter posttraumatischer Belastungsstörungen (PTBS), die eine entsprechende Behandlung erfordern. Dies ist eines der Ergebnisse der Studie von Dr. Sigrid Aberl. Sie untersuchte mit ihrem Team von Januar bis Juni 2014 in der Münchner Bayernkaserne mit der Hilfe von DolmetscherInnen insgesamt 140 Kinder. Im Durchschnitt hatte jede Familie 3 eher kleine Kinder, deren Durchschnittsalter 6,8 Jahre betrug. Die Flucht dauerte bei den meisten etwa ein Jahr und führte in 56% der Familien über das Meer. 48% der befragten Familien haben als Fluchtgrund Krieg, den Verlust von der Wohnung durch Krieg (18%) oder die persönliche Gefährdung durch Krieg (22%) angegeben. „Europa muss endlich für die Flüchtlinge auf europäischem Boden gemeinsam Verantwortung übernehmen. Es darf nicht zulassen, dass Menschen in dem immer größer werdenden Chaos an den Grenzen zu Schaden kommen. Es ist untragbar, wenn Fliehende durch Gräueltaten in ihrer Heimat traumatisiert werden; zusätzliche Traumata durch Fluchterlebnisse müssen gestoppt werden“, forderte Kamm.

Neben einer Anamnese mit DolmetscherInnen und einer Untersuchung der körperlichen Gesundheit wurden klinische Interviews geführt, die etwa 90 Minuten dauerten. „Mit Interviews erzielt man genauere Ergebnisse“, berichtete Dr. Sigrid Aberl. Wenn die Eltern in Screening-Bögen ihre Kinder selbst beurteilten sollen, würden sie erfahrungsgemäß ihren Nachwuchs eher als „unauffällig“ einstufen. „Wir haben die Erfahrung gemacht: Die herkömmlichen Screenings sind nicht ausreichend und führen eher dazu, dass die Probleme der Kinder unterschätzt werden“, so Aberl.

Auf der Basis ihrer Zahlen und Ergebnisse formulierte sie vier Lösungsansätze:

  • Psychoedukation (Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten einen gesundheitsförderlichen Lebensstil zu ermöglichen) in der Muttersprache für betroffene Familien bereits in den Erstaufnahmeeinrichtungen: Das Wissen, wie ein Trauma entsteht und dass weder Eltern noch Kinder „verrückt“ sind, sondern dass ihre Symptome eine normale Reaktion auf unerträgliche Erlebnisse sind, tröstet und hilft betroffenen Eltern und Kinder.
  • HelferInnen über PTBS informieren: Wer tagtäglich mit dem Leid der Flüchtlinge konfrontiert wird, muss durch Wissen und Handlungshilfen gestärkt werden.   
  • Bereits in der Erstaufnahme passende Sprechstunden und Erstversorgung mit niederschwelliger Beratung anbieten.
  • Medizinische und soziale Auswertung des Hilfsbedarfs und Verbesserung von Organisation und Koordination der Hilfsangebote, z.B. durch zentrale Internetplattform.


Dr. Daniel Drexler und Jürgen Soyer unterstrichen mit ihren Berichten aus der Praxis die Forderungen von Dr. Aberl. 90% der Jugendlichen unter 18 Jahren litten an Schlafstörungen, so Drexler. Solange aufgrund von Sprachbarrieren keine Therapie möglich sei, helfe eine niederschwellige Akutbehandlung, wie etwa Stabilisierungsgruppen. Hier lernen traumatisierte Flüchtlinge Stabilisierungstechniken, mit deren Hilfe sie kritische Situationen, wie Angstzustände oder Flashbacks, mildern oder abwenden könnten. „Bei einer unerkannten PTBS ist die Suchtgefahr durch Drogen oder Alkoholmissbrauch sehr groß“, sagte Drexler.

Ehrenamtliche unterstützen!

Soyer bestätigte den positiven Effekt von Gruppenarbeit: „Wir haben beispielsweise bei jungen Männern gute Erfahrungen mit Gruppen gemacht. Sie ersetzt die großen Familien oder Clans, die die Menschen aus ihrer Heimat kennen“. Die zwei größten Probleme seien fehlende Kostenerstattung für DolmetscherInnen und fehlende niedergelassene Trauma-Therapeuten. Außerdem müsse auch die Finanzierung von psychosozialen Therapieangeboten gesichert werden. Nur im Jahr 2014 betreute Refugio 200 Kinder und Jugendliche und 600 Erwachsene aus Flüchtlingsfamilien. Zusätzlich wurden 700 Kinder in Flüchtlingsunterkünften in Mal- Und Spielgruppen eingebunden. Christine Kamm und Ulli Leiner: „Wir brauchen endlich in Bayern ein einheitliches und damit effektiveres Vorgehen in den Landkreisen. Und wir brauchen dringend eine bundeseinheitliche Gesundheitskarte für alle Flüchtlinge.“ Die derzeitige Regelung zwingt AsylbewerberInnen, vor jedem Arztbesuch beim Sozialamt einen Behandlungsschein zu beantragen. Die Ausstellung der Behandlungsscheine ist bürokratisch, ineffizient und belastet Kommunen zunehmend. „Es entscheidet doch zumeist medizinisch ungeschultes Personal in den Ämtern darüber, ob Asylbewerberinnen und Asylbewerber Zugang zu medizinischer und psychotherapeutischer Behandlung erhalten oder nicht. Die psychischen Probleme sind aber auf ersten Blick weniger sichtbar, “ kritisierte Kamm.

Abschließend bedankten sich viele der anwesenden ÄrztInnen, SozialpädagogInnen, oder VertreterInnen von Krankenkassen sowie die Abgeordneten außerdem bei allen Ehrenamtlichen. „Dank sei den ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern und allen Wohlfahrtsverbänden in engagierten Kommunen. Sie haben beispielhaft gezeigt, wie man die Probleme durch Anpacken am schnellsten lösen kann. Wir müssen sichergehen, dass nun nicht die Ehrenamtlichen Folgeprobleme durch ihren Einsatz haben. Die Errichtung einer ehrenamtlichen Koordinierungsstelle in jedem bayerischen Regierungsbezirk ist notwendig, um auch solchen Problemen präventiv gegenüber zu stehen und die Arbeit der Ehrenamtlichen zu unterstützen“, sagte auch Kamm. Ehrenamtliche Helferinnen und Helfer sind ein maßgeblicher Faktor in der Betreuung und Integration von Flüchtlingen und Asylsuchenden in Bayern.

Die ehrenamtliche Arbeit beschränkt sich dabei nicht nur auf die Sammlung und Verteilung von Spenden und Hilfsgütern. In vielen Gemeinden sind Helferkreise entstanden, die sich in langfristig angelegten Projekten um die Integration und  Aufnahme von Flüchtlingen und Asylsuchenden vor Ort kümmern. Ehrenamtlich werden Sprach- und Bildungskurse angeboten. Viele Flüchtlinge und Asylsuchende haben ehrenamtliche Paten, die ihnen dabei helfen, alltägliche Probleme zu meistern oder die Integration in die Gesellschaft zu ermöglichen. Ehrenamtskoordinatoren hätten die Aufgabe, ein Backoffice für die verschiedenen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer bereitzustellen und die ehrenamtliche Arbeit insgesamt effizienter und strukturierter zu gestalten. Eine Ehrenamtskoordination ist auch wichtig, um Probleme schnell zu erkennen oder aufzugreifen.