Innere Sicherheit, Recht und Justiz

Verkörpert Bayern bald Orwells Dystopie?

Expertenanhörung zur Neuordnung des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes und zur Änderung des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes.

22. März 2018

Bei der Fraktionsvorsitzenden und innenpolitischen Sprecherin der Landtags-Grünen, Katharina Schulze werfen die Gesetzesentwürfe erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit auf. „Der Überwachungswahn der CSU-Regierung gefährdet zunehmend die verfassungsrechtlich garantierten Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger. Die massive Ausdehnung der Polizeibefugnisse ins Gefahrenvorfeld geht uns zu weit.“
Die Änderung des Polizeiaufgabengesetzes bringt weitgehende Änderungen mit sich: Der Begriff der drohenden Gefahr, also Eingriffsbefugnisse im Gefahrenvorfeld, wird nicht mehr nur im Bereich der terroristischen Bedrohung angewandt. Er dehnt sich nun nahezu auf alle Bereiche polizeilichen Handelns aus. Dies sei bei eingriffsintensiven Maßnahmen eine verfassungsrechtlich nicht mehr akzeptable Herabsetzung der polizeilichen Eingriffsschwelle -  ein „gewaltsamer Paradigmenwandel im bayerischen Polizeirecht“, so der Experte Prof. Löffelmann.
Das Zusammenspiel zwischen der Absenkung der Anordnungsvoraussetzungen und den neuen Befugnissen könnte, so Löffelmann, zu einer verfassungsrechtlich bedenklichen „Total- oder Rundumüberwachung“ führen. Der ebenfalls als Sachverständiger geladene Rechtsanwalt Hartmut Wächtler betont, dass in der Gesamtschau betrachtet keine deutsche Behörde seit 1945 derart umfassende Eingriffs- und Kontrollbefugnisse in die Lebensweise und Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger besessen hat, wie sie die Bayerische Polizei nun haben soll.  
Kritik wurde besonders an der Befugnis der DNA-Analyse zur Feststellung des Geschlechts, der Augen, Haar- und Hautfarbe und des biologischen Alters und der biogeographischen Herkunft geäußert. Der ehemalige Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kurt Graulich verwies auf das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das gewährleistet, grundsätzlich selbst über die Offenbarung persönlicher Lebenssachverhalte entscheiden zu können. Prof. Dr. Thomas Petri plädierte in diesem Zusammenhang dafür, dass im Gesetz ein Ausschluss kernbereichsrelevanter Daten verankert sein muss.
Kritisiert wurde darüber hinaus, dass im Bereich der Gefahrenabwehr künftig Sprengmittel wie z.B. Handgranaten oder Maschinengewehre zum Einsatz kommen können, dass die Trennung zwischen dem Verfassungsschutz und der Polizei durch sich überschneidende Befugnisse zu verschwimmen droht, oder der Einsatz von Body-Cams innerhalb privater Wohnungen.
Einige neue Polizeibefugnisse sind technisch noch lange nicht ausgereift und werfen verfassungsrechtliche Probleme auf: Der Einsatz von automatisierter Verhaltens- und Gesichtserkennung bei Videoüberwachung liefert bislang noch kaum verwertbare Ergebnisse, greift aber tief in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Auch der Einsatz von Drohnen ist zu schwammig geregelt – es bleibt unklar, zu welchem Zweck und in welcher Art und Weise diese eingesetzt werden sollen.
Die beiden Gesetzesentwürfe bringen schwerwiegende Änderungen mit sich, die verfassungsrechtliche Bedenken aufwerfen. Die Materie sei viel zu komplex, um sie im in der Kürze der vorgegebenen Zeit angemessen beurteilen zu können, bemängeln einige Experten, darunter auch die von der CSU-Fraktion beauftragten Sachverständigen Prof. Dr. Josef Franz Lindner und Prof. Dr. Markus Möstl. Die Anhörung war lediglich auf zweieinhalb Stunden festgesetzt. Gerade bei einem so weitgehenden Gesetz, durch das viele Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger berührt werden, darf es kein Hau-Ruck-Verfahren geben – dies wird der Bedeutung und den Konsequenzen dieser Gesetzesänderung nicht gerecht.  
Wenn für Juraprofessoren wie Prof. Lindner mit 30-jähriger Expertise das hochkomplexe Gesetz schwierig zu durchdringen ist, wird es in der Praxis im polizeilichen Alltag – gerade in Stresssituationen – auch gravierende Probleme bei der Anwendung geben.
Die Staatsregierung hat mit den vorgelegten Gesetzentwürfen bewiesen, dass ihr der verfassungsrechtliche Kompass abhandengekommen ist. „Wer hier an George Orwell denkt, liegt nicht falsch“, so äußert sich Rechtsanwalt Hartmut Wächtler in seiner schriftlichen Stellungnahme. Wir können uns seinen Worten nur anschließen. Die Gesetzentwürfe müssen in der parlamentarischen Beratung nachgebessert werden, ansonsten bleibt nur der Gang vor das Verfassungsgericht, um die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger vor einem drohenden Überwachungsstaat zu schützen.